An Diesem Dienstag (Wolfgang Borchert) 1947
Die Woche hat einen Dienstag.
Das Jahr hat ein halbes Hundert.
Der Krieg hat viele Dienstage.
An diesem Dienstag übten sie in der Schule die großen Buchstaben. Die
Lehrerin hatte eine Brille mit dicken Gläsern. Die hatten keinen Rand. Sie
waren so dick, daß die Augen ganz leise aussahen.
Zweiundvierzig Mädchen saßen vor der schwarzen Tafel und schrieben mit
großen Buchstaben:
DER ALTE FRITZ HATTE EINEN TRINKBECHER AUS BLECH. DIE DICKE BERTA SCHOSS BIS
PARIS. IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
Ulla kam mit der Zungenspitze bis an die Nase. Da stieß die Lehrerin sie an.
Du hast Krieg mit ch geschrieben, Ulla. Krieg wird mit g geschrieben. G wie
Grube. Wie oft habe ich das schon gesagt. Die Lehrerin nahm ein Buch und
machte einen Haken hinter Ullas Namen. Zu morgen schreibst du den Satz
zehnmal ab, schön sauber, verstehst du? Ja, sagte Ulla und dachte: Die mit
ihrer Brille.
Auf dem Schulhof fraßen die Nebelkrähen das weggeworfene Brot.
An diesem Dienstag
wurde Leutnant Ehlers zum Bataillonskommandeur befohlen. Sie müssen den
roten Schal abnehmen, Herr Ehlers.
Herr Major?
Doch, Ehlers. In der Zweiten ist so was nicht beliebt.
Ich komme in die zweite Kompanie?
Ja, die lieben so was nicht. Da kommen Sie nicht mit durch. Die Zweite ist
an das Korrekte gewöhnt. Mit dem roten Schal läßt die Kompanie sie glatt
stehen. Hauptmann Hesse trug sowas nicht.
Ist Hesse verwundet?
Nee, er hat sich krank gemeldet. Fühlte sich nicht gut, sagte er. Seit er
Hauptmann ist, ist er ein bißchen faul geworden, der Hesse. Versteh ich
nicht. War sonst immer so korrekt. Na ja, Ehlers, sehen sie zu, daß sie mit
der Kompanie fertig werden. Hesse hat die Leute gut erzogen. Und den Schal
nehmen Sie ab, klar?
Türlich, Her Major.
Auf dem Wege zur zweiten Kompanie nahm Leutnant Ehlers den Schal ab. Er
steckte eine Zigarette an. Kompanieführer Ehlers, sagte er laut.
Da schoß es.
An diesem Dienstag
sagte Herr Hansen zu Fräulein Severin:
Wir müssen dem Hesse mal wieder was schicken, Severinchen. Was zu rauchen,
was zu knabbern. Ein bißchen Literartur. Ein Paar Handschuhe oder sowas. Die
Jungens haben einen verdammt schlechten Winter draußen. Ich kenne das.
Vielen Dank.
Hölderlin vielleicht, Herr Hansen?
Unsinn, Severinchen, Unsinn. Nein, ruhig ein bißchen freundlicher. Wilhelm
Busch oder sowas. Hesse war doch mehr für das Leichte. Lacht doch gern, das
wissen Sie doch. Mein Gott, Severinchen, was kann dieser Hesse lachen!
Ja, das kann er, sagte Fräulein Severin.
An diesem Dienstag
trugen sie Hauptmann Hesse auf einer Bahre in die Entlausungsanstalt. An der
Tür war ein Schild:
OB GENERAL, OB GRENADIER:
DIE HAARE BLEIBEN HIER.
Er wurde geschoren. Der Sanitäter hatte lange dünne Finger. Wie
Spinnenbeine. An den Knöcheln waren sie etwas gerötet. Sie rieben ihn mit
etwas ab, das roch nach Apotheke. Dann fühlten die Spinnenbeine nach seinem
Puls und schrieben in ein dickes Buch: Temperatur 41,6. Puls 116. Ohne
Besinnung. Fleckfieberverdacht. Der Sanitäter machte das dicke Buch zu.
Seuchenlazarett Smolensk stand da drauf. Und darunter: Vierzehnhundert
Betten. Die Träger nahmen die Bahre hoch. Auf der Treppe pendelte sein Kopf
aus den Decken heraus und immer hin und her bei jeder Stufe. Und
kurzgeschoren. Und dabei hatte er immer über die Russen gelacht. Der eine
Träger hatte Schnupfen.
An diesem Dienstag
klingelte Frau Hesse bei ihrer Nachbarin. Als die Tür aufging, wedelte sie
mit dem Brief. Er ist Hauptmann geworden. Hauptmann und Kompaniechef,
schreibt er. Und sie haben über 40 Grad Kälte. Neun Tage hat der Brief
gedauert. An Frau Hauptmann Hesse hat er oben drauf geschrieben.
Sie hielt den Brief hoch. Aber die Nachbarin sah nicht hin. 40 Grad Kälte,
sagte sie, die armen Jungs. 40 Grad Kälte.
An diesem Dienstag
fragte der Oberfeldarzt den Chefarzt des Seuchenlazaretts Smolensk: Wieviel
sind es jeden Tag?
Ein halbes Dutzend.
Scheußlich, sagte der Oberfeldarzt.
Ja, scheußlich, sagte der Chefarzt.
Dabei sahen sie sich nicht an.
An diesem Dienstag
spielten sie die Zauberflöte. Frau Hesse hatte sich die Lippen rot gemacht.
An diesem Dienstag
schrieb Schwester Elisabeth an ihre Eltern: Ohne Gott hält man das gar nicht
durch. Aber als der Unterarzt kam, stand sie auf. Er ging so krumm, als
trüge er ganz Rußland durch den Saal.
Soll ich ihm noch was geben? fragte die Schwester.
Nein, sagte der Unterarzt. Er sagte das so leise, als ob er sich schämte.
Dann trugen sie Hauptmann Hesse hinaus. Draußen polterte es. Die bumsen
immer so. Warum können sie die Toten nicht langsam hinlegen. Jedesmal lassen
sie sie so auf die Erde bumsen. Das sagte einer. Und sein Nachbar sagte
leise:
Zicke zacke juppheidi
Schneidig ist die Infanterie.
Der Unterarzt ging von Bett zu Bett. Jeden Tag. Tag und Nacht. Tagelang.
Nächte durch. Krumm ging er. Er trug ganz Ruáland durch den Saal. Draußen
stolperten zwei Krankenträger mit einer leeren Bahre davon. Nummer 4, sagte
der eine. Er hatte Schnupfen.
An diesem Dienstag
saß Ulla abends und malte in ihr Schreibheft mit großen Buchstaben:
IM KRIEG SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
IM KRIEG SIND ALLE VÄTER SOLDAT.
Zehnmal schrieb sie das. Mit großen Buchstaben. Und Krieg mit G. Wie Grube.